Die längste Etappe - Tag 2/6
Von Garmisch bis zum Gardasee #6
Lesezeit: 8 Min.
Ganz am Ende gibt es ein Video von der heutigen Tour.
Die Routenbeschreibung von Andreas Albrecht für Tag 2 fängt an mit den Worten: „War der erste Tag von Garmisch bis ins Inntal eher eine gemütliche Einrolltour, heißt es am zweiten Tag ordentlich Strecke zu machen.“
Say what?
Ey, der gestrige Tag war hammerhart. Gemütlich? Einrolltour? F&/%#*+£$!!!!!!
Die Nacht war kurz, aber ruhig und gemütlich. Frühstück war mir mit 07.30 Uhr etwas zu spät, aber nun gut, isso.
Akku ist voll. Handy ist voll. Powerbank ist voll. Kann also losgehen.
Der Fehler von gestern soll sich nicht wiederholen, also schön immer nur auf ECO, manchmal sogar komplett ohne Unterstützung, also aus.
Apropos aus
Apropos aus. Es ist ziemlich kalt heute morgen. Besonders im Schatten der steilen Bergmassive. Also Thermojacke an, Handschuhe aus. Unterziehmütze auf, dann wieder aus. Ärmlinge raus und angezogen. Thermojacke aus. Unterziehmütze wieder ausgezogen. Dünnes Gilet an. Ne Weile gefahren. Dann wieder aus.
Junge junge, ich komm mir vor wie auf der Berlin Fashion Week.
Ein paar Stunden später wird es gemütlicher. Nicht so warm wie gestern, weil Federwolken etwas Sonnenschutz spenden. Etwas Rückenwind. Irgendwie angenehmer als gestern.
Heute ist die längste Etappe dran: Über 100 km, immer nur bergauf. Am Anfang mit leichter Steigung, ab der zweiten Pause dann schon sportlich steil.
Turbo an und ab dafür.
Obwohl ich zu 90% im ECO-Modus bin, manchmal bin ich echt froh, diese Unterstützung zu haben. Also E-MTB oder TURBO rein und hoch da. Trotz der höchsten Unterstützung und dem kleinsten Gang pumpt mein Herz auf Hochtouren. Ich schnaufe, schwitze ... und lächle.
Es war gut, heute morgen nochmal die Luftpumpe rauszuholen und etwas mehr Luftdruck drauf zu geben. Vorne etwas mehr, hinten viel mehr. Der Grund ist einfach: Weniger Luftdruck = mehr Grip. Mehr Luftdruck = weniger Rollwiderstand. Und weil heute viel Radweg und Strasse auf dem Plan stehen, kommt eben viel Luft drauf.
Nach der ersten größeren Steigung geht es die Passstraße runter Richtung Reschenpass. Es gibt keinen Radweg, ich muss mir mit Autos und Wohnmobilen die Strasse teilen. Als mich ein Schweizer Postbus überholt, hab ich kurz berechtigte Ängste, ob ich heil unten ankomme.
Alles geht gut, ich komme heile unten am Zollhäuschen an und bin
In drr Schwyz, In drr Schwyz, In drr Schwyz
Die Autoschlange ist kurz, ich reihe mich pflichtbewusst ein und warte darauf, dass ich passieren kann. Zwei Schweizer Zöllner stehen mit unveränderlicher Miene am Schlagbaum gelehnt. Nur ein kurzes Fingerzucken signalisiert mir, dass ich ohne Kontrolle durch darf.
In der Schweiz ist alles noch viel niedlicher. Ich fahre am Fluss entlang und merke, dass ich in einem anderen Land bin. Den Schlagbaum hätte es dazu nicht gebraucht, es ist einfach anders hier.
Ich fahre durch märchenhafte Wälder, komme an Skulpturen vorbei und auch an einer Gruppe von Menschen, die jeweils drei Hölzer parallel vor sich liegen haben ... und sich nicht bewegen. Also gar nicht. Scheint so etwas wie ein Selbstfindungskurs oder so zu sein.
An manchen Stellen ist es so idyllisch wie auf einer Modelleisenbahn. So liebevoll gemacht, so pittoresk. Die Vögel zwitschern. Man muss sich einfach in dieses Graubünden verlieben.
Vögel zwitschen? Nee, Moment mal. Das sind keine Vögel. Das ist meine Kette, die droht, trocken zu laufen. Es kündigt sich mit einem Zwitschern an.
Also angehalten, das Radl auf die Stirn (nicht auf den Kopf) gestellt, WALK+ Taste gedrückt, dann läuft der Antrieb von selbst. Und rauf mit dem teuren Ketten-Trockenschmiermittel. Ich hatte das zwar schon einmal heute Morgen gemacht ... aber Schiet Op ... Viel hilft viel.
Jetzt, nachdem die Kette ordentlich frisch eingejaucht ist und sich mit dem Staub des guten Graubündner Granits verbunden hat, erinnert mich die Schmiere an den Ölpeilstab aus Oppas altem 250D, auf den er so stolz war, dass er imer noch den ersten Satz Reifen drauf hat. Vermutlich war der letzte Ölwechsel zu einer Zeit gemacht worden, wo es noch ne vierstellige Postleitzahl gab.
Egal
Jetzt sollte es ja wieder quietschfrei laufen. Tut es aber nicht. Nach ein paar km weiter bin ich so genervt davon, dass ich anhalte, das Rad beiseite lege und erstmal nachdenke. Dann kommt mir die Idee, es könnten ja auch die Umlenkrolle oder der Umwerfer sein. Also wieder ordentlich Trockenschmiermittel drauf und weiter gehts.
Kein Zwitschern mehr. 1a repariert, würde ich mal sagen.
Nach ca. 2/3 der Strecke komme ich an einem romantischen Campingplatz an und bestelle mir ein Wiener Schnitzel.
27.50 CHF
Essen in der Schweiz ist teuer. Das Schnitzel kostet umgerechnet etwa 25 €. Ist aber den Preis wert. Schweiz eben.
Ich lade nochmal meinen Akku randvoll. Das dauert - dank meiner sparsamen Fahrweise - 1,5 Std. Der Akku muss auch randvoll sein, denn jetzt liegen noch 1.200 hm vor mir. Und ein voller Akku ist nach 1.200 hm leer.
Mal sehen, ob‘s diesmal reicht.
Es könnte reichen. Ich bin mir aber nicht sicher. Es geht vom Fluss ab nun den Berg rauf Richtung Münstertal. Ein heftiger Anstieg. Erst Serpentinen, dann schier unendlich lange Rampen. Nach jeder Kurve eine nicht enden wollende weitere Rampe.
Ich könnte kotzen.
Ich muss Akku sparen, sonst komm ich heute nicht ans Ziel. Ich wähle einen leichten Gang und entsprechend hohe Trittfrequenz. Das gefällt dem Schnitzel so gut, dass es ein paar mal am Gaumendeckel anklopft. Ich höre es mich förmlich anflehen: „Lass mich raus“.
„Nix da,“ denke ich mir, „27,50. Du bleibst schön drin!“
Ein paar Rampen weiter muss ich mich meiner Sachen entledigen, so gut es geht. Also Helm ab (Sorry, Anja. Ich weiß, ich hab Dir das Versprechen gegeben, nur mit Helm zu fahren. Ich würds gerne rückgängig machen, damit mein Mageninhalt nicht gleich auf dem Vorderreifen landet. Das Rad war teuer!)
Mit Helm auf dem Kopf ist es bergauf einfach zu warm. Trikot auch noch auf. Ich sehe jetzt, mit meiner roten Birne, aus wie ein Giro-D’Italia-Rennradfahrer auf dem Col de Colombe (Nur mit dem Unterschied, die werden dafür bezahlt und haben Fans am Strassenrand stehen, die sie anfeuern.)
Ich fahre jetzt durch ein Lawinengebiet, das aussieht wie eine Mondlandschaft. Menschenleer, nur graues Geröll und Kies.
Dann entdecke ich ein älteres Paar am Strassenrand, welches die unwirkliche Landschaft fotografiert. Ich stelle mir vor, sie sind meine Fans und fotografieren mich, während ich meinem Sieg entgegenfahre.
Auf dem Weg zum Höchsten Punkt: Planänderung
Ich komme in S-charl an. Dort gibt es einen niedlichen, klitzekleinen Dorfplatz. Ich gehe auf die Terrasse des Cafés und bestelle mir einen Cappuccino. Die restliche Ladung (3 Balken) müssten reichen. Schätze, so 500 hm sind noch drin. Bis zur Passhöhe sind es noch 400 hm.
Nach dem Desaster gestern denke ich mir: „Sicher ist sicher.“ Also Akku raus, ab in die Steckdose, 1/2 Std nachladen. Das wären ca. +150 hm. In Summe also 650 hm. Dann könnte ich ja evtl. nochmal ab und zu den TURBO einschalten, wenns eng wird.
Es wurde eng.
Es wird kühl. Ich ziehe wieder meine Wind-Gilet an. Es wird immer idyllischer.
„Man man man, wer haut denn solche riesigen Fladen raus? Respekt!‘ denke ich mir. Ein paar hundert Meter weiter oben höre ich Kuhglocken. Die grasen zwischen einem kristallklaren Bachlauf. Ach, wie romantisch.
Ich erreiche die Baumgrenze. Es wird kühler. Empfindlich kühl. Weiter gehts. Oder ... auch nicht. Die Pfade sind tief ausgetreten, es liegen kindskopfgroße Steine auf dem Weg. Ich muss immer mal wieder absteigen und schieben. Geht nicht anders.
Ich erreiche die Passhöhe. Und bin tatsächlich ein bisschen stolz.
Danach geht es nur noch bergab. Über Wiesen, ausgetretene Pfade und geschotterte Wirtschaftswege. Die Abfahrt wird zeitweilig so steil, dass ich wie Hochseilartist immer wieder ausbalancieren muss. Diese Route ist definitiv nichts für Anfänger. Man sieht es an den vielen Schuhabdrücken auf dem Weg - in beiden Richtungen.
Ich zieh durch und fahre runter.
Irgendwann wird es doch zu gefährlich. Ich ziehe meine Hose und Armschützer vom BMX an. Danach fühle ich mich sicherer und es geht ziemlich fix bergab. Die Sonne verwindet hinter dem Berg. Der Mond scheint schon.
Unten im Ort angekommen, merke ich, dass das Hotel gar nicht in diesem Ort ist, sondern noch 4 km entfernt.
Verfickte Scheisse. Ich will endlich duschen und was essen. Ok, nützt ja nix, also reingehaun. Zum Glück geht es moderat bergab. Meine Kette hat allerdings was dagegen und verkeilt sich zwischen Rahmen und Ritzel. Also absteigen, rausfriemeln, weiter gehts. Allerdings mit total eingesauten Handschuhen.
An-Aus-Rauf-Runter-Rein-Raus ist das Motto des heutigen Tages. Ach ja, es war die längste Etappe der Strecke: 105 km. Oder so ähnlich.
Um 20.10 Uhr sitze ich endlich im Hotel und bestelle mir eine Bündner Marendplatte. Check.
Sonnige Grüße
Jens
PS: Ich bin übrigens mit 2 km Rest-Reichweite im Hotel angekommen. Man sagt: Gute Pferde springen knapp. Das war heute knapp.
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Über den Autor:
Jens Mlinarzik, 50 Jahre alt und von Beruf selbstständiger Markenberater und Experte für Positionierung. Ich komme ursprünglich vom BMX (fahre ab und zu auch selber noch auf der Bahn in Vechta – leider viel zu selten), bin begeisterter Radfahrer und hab den halben Keller voller kleiner, feiner Schätze, die jedem Rennradfahrer das Herz aufgehen lassen würden. Meine Herzdame schläft eher ein, wenn ich wieder mal enthusiastisch davon erzähle, welche Schrauben ich gerade bei eBay ersteigert habe.
Mein E-Mountainbike ist ein Haibike XDuro NDuro 10.0 auf dem Jahr 2018.