Das Wetter wird schlechter - Tag 3/6


Von Garmisch bis zum Gardasee #7

Lesezeit: 7 Min.

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Die Wettervorhersage für die nächsten Tage ist nicht so pralle: Es soll regnen. 

Es ist 5.27 Uhr

Ich bin hellwach. Ich kann nicht mehr liegen. Mein Arsch tut weh. Ein mit einem „schönen guten Morgen“ sanftes Aufwecken sieht anders aus. 

Aber … nützt ja nix … früh raus aufs Rad und Meter machen. Zumindest so viele Meter, dass ich das Meiste schon durch habe, bevor es richtig nass wird. 

Ich schaue mir nochmal die Route genau an und entscheide mich für die etwas leichtete (Hahahahaaaa) Route über Bormio. Das sind „nur“ 900 hm. 

Also schwinge ich mich fröhlich auf meinen Sattel. Meine beiden Arschbacken schreien kurz laut auf: 

Dein Ernst? Seriously?

„Ja, mein voller Ernst. Außerdem seid ihr beiden doch immer so stolz und brüstet euch damit, dass ihr aus erstklassigem Werkzeugstahl gemacht seid, oder ... hä, hä, wat is denn nu Phase?“

Schweigen im Walde. Mein Navi führt mich aus dem Biosphärenreservat Münstertal hinaus Richtung Süden. Ohne das Navi hätte ich den Einstieg in die Route übrigens nie im Leben gefunden. 

Es geht jetzt steil hinauf zum Eingang ins Val Mora. Pinienbäume, Findlinge und Grasfelder wechseln sich ab. Die Wege sind wirklich erstklassig zu fahren. Meine Gravel-Reifen waren die weltbeste Entscheidung. Unendlich Grip und gleichzeitig Laufruhe. Was will man mehr?

Was will man mehr?

Vielleicht noch ne SUPERBOOST-Taste on top. Ich bin wirklich am Anschlag, sowohl mit der Unterstützung als auch mit meiner eigenen Kraft. Es geht unfassbar steil bergauf. Noch mehr Power wäre schön, aber der Reifen rutscht jetzt schon ab und an durch. Also schön sitzenbleiben, das bringt Druck (und Grip) aufs Hinterrad. 

Es folgen endlose Serpentinen. Als die Baumgrenze erreicht ist, sehe ich einen Biber, der rasch hinter den nächsten Findling springt. Das Pfeifen signalisiert, da kommt Gefahr (die meinen mich wohl). Oder es sind Erdmännchen. Genau kann ich das nicht sagen. Ich bin kein Biologe. 

(Anm. von meinem guten Freund Jens: Murmeltiere. Es sind Murmeltiere)

Links neben mir ein kleiner Bachlauf, der immer dünner wird. Die Passhöhe kann nicht mehr so weit sein. 

Zwei Doofe, ein Gedanke

Ich sehe Kühe, die dort grasen. Aber nicht auf der platten Weide, nein, am Steilhang. Und ich meine Steil-Hang. Sie stehen auf winzig kleinen, ausgetretenen Vorsprüngen, die sie in jahrzehntelanger Arbeit dort eingelaufen haben. 

Ich frage mich, wie die dort oben raufgekommen sind. Eine Kuh bemerkt mich und schaut in meine Richtung. Ich werde das Gefühl nicht los, dass sie gerade denselben Gedanken hat. Nur mit dem Unterschied, dass die Kuh dort Nahrung sucht. Ich suche hier oben etwas ganz anderes. 

Weil‘s Spass macht. 

Ja, die Antwort ist: „Weil‘s Spass macht.“ Den Kopf freikriegen. Freiraum für neue Inspirationen schaffen. Nennt es, wie ihr es wollt, für mich ist das ein hoher Wert, ab und zu mal seine Grenzen auszuloten. Und auch in einem Land zu leben, welches diese Freiheit ermöglicht. 

Ein paar hundert Meter weiter dreht sich der Bach um in die andere Richtung. Es geht also in Richtung Tal. Nochmal kurz angehalten, eine Windweste drübergezogen. Und die Handschuhe auch wieder an. Die sind klamm vom Nebel. Ich spüre, das Wetter wird schlechter. 

Die Trails bergab sind traumhaft. Gleichmäßig und nicht zuviel geneigt, so dass ich richtig den Hahn aufdrehen kann. Mehr als die Hälfte der Strecke kann ich im Stehen fahren. Ein Gefühl, als würde man eine Motocross-Maschine fahren. Die Wellen werden weggebügelt. Durch die Bäche, die meine Weg kreuzen, kann ich voll durchballern. Die Wildgatter, an denen ich am Vortag immer noch abgestiegen bin, fahre ich jetzt durch. Mit einem Sprung. 

Ich bin im Flow

Es läuft. Das sind Momente, wofür es sich lohnt zu leben. Mein Bike ist genau die perfekte Maschine für diese Expedition. Die 180 mm Federweg braucht es tatsächlich. Ebenso die Bremsen, die von einem Hersteller für Motorradbremsen kommen. Die packen zu, als gäbs kein Morgen. 

Nix dem Zufall überlassen. Genau mein Ding. 

Auf der Westseite des Gipfels komme ich in eine Passage, die durch Gerölllawinen durchsetzt ist. Ab jetzt geht es nur noch langsam weiter. Ab und zu muss ich absteigen und schieben. Links geht es die Schuttberge steil bergauf. Rechts steil bergab. Ein Fehler, und die Reise ist hier zu Ende. Irgendwo hört man das Klackern herabrutschender Steine. 

Diese Route ist definitiv nichts für Anfänger. 

Nachdem ich wieder in sichereres Gelände komme, wird der Wind scharf. Und kühl. Mir kommt eine kleine Gruppe älterer Damen auf sehr teuren E-MTBs entgegen. Wir grüßen uns freundlich. Ich denke mir noch: „Noch lächelt ihr...“

Am Lago di San Giacomo angekommen kehre ich erst einmal ein. Italienische Musik, alles auf italienisch geschrieben. „Ach ja,“ denke ich „ich bin ja schon in Italien.“

Krass

Hier wird übrigens wieder Maske getragen. (In der Schweiz war das nirgends zu sehen.) Ich nutze die Zeit, einen Cappuccino zu trinken. Während dessen lädt mein Akku auf. Draussen zieht eine Regenfront auf. Der erste Regen pladdert an die Scheibe. Ich bestelle mir noch einen zweiten Cappuccino. 

Naja, also erst einmal das Regenzeug rausgeholt, wieder alles umgezogen. Steckschutzblech ran, die Kette bekommt diesmal kein Trockenschmiermittel, sondern extra Kettenöl für Regen. Und weiter gehts Richtung Bormio.  

Kalt und nass. 

Nach den ersten hundert Metern merke ich, meine Rennradregenhose ist dem, was da von oben kommt, nicht gewachsen. Ich fahre auf einer Strasse neben dem Lago entlang, die eher eine Zufahrtsstraße eines Steinbruchs ähnelt. Ab und zu schmiert mein Hinterrad weg. 

Nasse Scheibenbremsen sind nicht geil. Die machen beim Bremsen Geräusche, als würde ein D-Zug in den Bahnhof einfahren. Bevor das die Serpentinen runter Richtung Bormio geht, muss ich die trocken kriegen. Nicht nur wegen dem Quietschen, auch wegen der Bremsleistung.

Anders als bei dem Bremsen beim Auto, deren Bremsklötze permanent an der Scheibe anliegen und leicht schleifen, liegen die beim MTB nicht an. Man muss die trockenbremsen, bevor man die Bremsleistung braucht. (Beim Auto liegen die deshalb permanent an, weil jederzeit die volle Bremskraft abgerufen werden können muss. Auch spontan.)

Naja, ist vielleicht jetzt auch bisschen viel Technikgelaber. Das nervt die weiblichen Mitleser.

Auf der Hälfte der Serpentinen bergab sind meine Füsse derart nass und kalt, dass ich nochmal anhalte. Rucksack runter, GoreTex-Socken raus. 

Das Spielchen mit Rucksack-runter-und-wieder-rauf wird zur Routine. Mein Handy ist so nass, dass sich das Display nicht mehr bedienen lässt. Also ab damit in den Rucksack. 

Das Dumme dabei ist, ich muss an jeder Weggabelung das Navi rausholen, damit ich weiss, wo ich lang muss. Zweimal denke ich „Ach komm, geht auch ohne.“ Beim zweiten Mal verpasse ich eine Ausfahrt und befinde mich - so schnell konnte ich gar nicht gucken - auf einer Schnellstrasse mit Leitplanken. Ich warte eine große Lücke zwischen den Autos ab und drehe um. Dämlich und gefährlich zugleich. 

71 km/h

Die letzten 30 km bis nach Grosio gehen bergab. Ich entscheide mich für die Strasse und Vollgas. Es regnet so doll, ich will nur noch ins Hotel. Mit jedem Höhenmeter bergab wird es etwas wärmer. Als ich an so einem kleinen Eiswägelchen vorbeizische, sehe ich aus dem Augenwinkel den Eisverkäufer im kurzärmeligen Poloshirt. Kann wohl doch nicht so kalt sein. Mir ist nur saukalt. 

Angekommen, verteile ich erstmal meine ganzen Sachen im Zimmer, damit sie trocknen können. Ist aber eigentlich auch egal, weil morgen soll es eh regnen. Ich ziehe meine GoreTex-Socken aus und raus kommt eine Tasse voll Wasser. 

Ich brauche Wärme. Ab ins Spa.

Grüße

Jens


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Über den Autor:

Jens Mlinarzik, 50 Jahre alt und von Beruf selbstständiger Markenberater und Experte für Positionierung. Ich komme ursprünglich vom BMX (fahre ab und zu auch selber noch auf der Bahn in Vechta – leider viel zu selten), bin begeisterter Radfahrer und hab den halben Keller voller kleiner, feiner Schätze, die jedem Rennradfahrer das Herz aufgehen lassen würden. Meine Herzdame schläft eher ein, wenn ich wieder mal enthusiastisch davon erzähle, welche Schrauben ich gerade bei eBay ersteigert habe. 

Mein E-Mountainbike ist ein Haibike XDuro NDuro 10.0 auf dem Jahr 2018. 

https://www.expertenfuerpositionierung.de/

JENS MLINARZIK7 Comments