Die Schlammlawine - Tag 4/6
Von Garmisch bis zum Gardasee #8
Lesezeit: 14 Min.
Gestern Abend war ich noch lecker im Hotel Sassella essen. Als Vorspeise - Primi - gab es hausgemachte Gnocci mit Salbeibutter, die so zart waren, dass man sie am Gaumen zerdrücken konnte. Zur Hauptspeise -Secondi - gab es Hirschrücken mit Rotweinjus und Thymian.
Ein echter GenusS
Das Restaurant füllte sich langsam. Ältere Herrschaften kommen rein und werden an ihren Tisch gebracht. „Feine Anzüge,“ denke ich mir. Diese Italiener können das einfach, auch bis ins hohe Alter. Die dazugehörigen Ehefrauen sehen auch sehr gepflegt aus.
Es werden immer mehr Stimmen, immer mehr wild gestikulierende Italiener. Man spürt die Dolce Vita. Scheint ein guter Tipp zu sein, dieses Haus.
Ich war einer der ersten Gäste an dem Abend. Und das hatte auch einen guten Grund: Meine Sachen waren alle nass, also musste ich mit kurzer Hose und diesen Einmal-Badelatschen aus dem Spa dort rein. Und zwar, BEVOR der Laden voll ist.
Der Inhaber des Hotels und Restaurants hat mir einen Tisch reserviert. Aber nicht am Eingang, dort, wo ich schnell wieder raus kann ... Nö nö, wenn schon, denn schon ... er brachte mich vorbei am Buffet, vorbei an der Obstlerbar, vorbei an der Salatbar, vorbei am Vorspeisen-Zubereitungstisch ... ganz nach hinten durch.
Der Platz war erstklassig
Der Beste vielleicht. Nur eben nicht für mich ... nicht an diesem Abend ... nicht mit kurzer Hose und meinen noch immer nassen Klamotten auf dem Hotelzimmer.
Soweit so gut. Aber wie mach ich den Abgang hier? Wie komm ich möglichst ungesehen hier an den ganzen Tischen vorbei?
Ok, doofe Situation
Kannste aber nix machen. Die Situation ist nunmal so, wie sie ist. Das ist zwar etwas frustrierend, weil diesem Rahmen nicht angemesen, aber nicht wirklich relevant.
Also geniesse ich mein Secondi. Der Hirschrücken mit Rotweinjus und Thymian ist excellent. Ich tunke ein Stück Südtiroler Schüttelbrot in die Sauce und denke an Morgen.
Morgen wird es noch nasser
Tja, da kann man sich drüber aufregen. Oder man sagt sich: Das meiste fällt doch eh vorbei. Oder: Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur schlechte Klamotten.
Du kannst es drehen und wenden, wie Du willst: Morgen regnet es und ich hab 1.200 hm vor mir.
Ich mag meine Fähigkeit zur Resilienz
Resilienz steht für den Umgang mit Frustration. Und morgen wird es wohl sehr frustrierend werden.
Ich weiß, ich werde das packen
Dabei geht es nicht um irgendwelche Motivationsspüche, die mir helfen, den Berg hoch zu pedalieren, sondern es geht„nur“ um meine Resilienz. Also meine Fähigkeit, mit der Frustration, die morgen kommt, umzugehen.
Meine Klamotten sind nass. Fakt.
Es wird sehr kalt werden. Fakt.
Mein Bike wird immer wieder wegrutschen. Fakt.
Ich hätte mir auch schönere Bildmotive vorstellen können. Fakt.
Die Bremsen werden leiden. Fakt.
Es wird nerven, den Rucksack immer wieder ab- und wieder aufzusetzen. Fakt
Und ja, ich werde mächtig genervt sein. Das ist ebenfalls ein Fakt.
Ich zieh das trotzdem durch
Ich freue mich zwar nicht so doll auf die kommenden Regentage, aber ... ich kann die Situation nicht ändern. Also ab aufs Rad und durch da.
Warum? Weil ich mit der Frustration umgehen kann. Ich habe eine sehr hohe Frustrationsschwelle. Zu hoch, manchmal. Leider. Es braucht sehr sehr sehr sehr sehr lange, bis ich daran denke, aufzugeben. Andere hätten längst das Handtuch geworfen oder wären die Reise erst gar nicht angetreten. Ich beiße mich da durch. Bestens vorbereitet for „The Long Stretch“, sozusagen.
Das Restaurant ist jetzt, um 20.30 Uhr, bumsvoll. Als ich es etwas später verlasse, wird der Stimmenpegel für einen kurzen Moment etwas leiser. Wenn die nur wüssten, was mich morgen erwartet ...
Am nächsten Morgen
Es schüttet aus Kübeln. Zum Glück ist es hier im Tal noch verhältnismäßig warm. Die Italiener laufen in Polohemden rum.
Ich bereite mich auf die Tour vor. Streckencheck. Ich nehme die „leichtere“ Route, die ausschliesslich über Strasse führt. Sicher ist sicher.
Keine Experimente
Die nette Dame am Empfang schaut mich mitleidig an und bietet mir einen Espresso für die Wartezeit an. Ich lehne dankend ab, ich will da jetzt raus.
Ich bereite mein Bike vor. Akku rein, Stecklicht dran, das Handy kommt diesmal in einen Gefrierbeutel. Ich verteile wieder mal großzügig das teure Kettenöl für Regenbedingungen. So großzügig, dass, nachdem ich nach einige Min später wieder zurück komme, das Zeug auf die Fliesen tropft. Es sieht aus wie in einem Splatter-Movie. Das Zeug ist nämlich dunkelrot.
Herrgottssackra!!!! Zefix!!!! #%$£•+*|\/?!!!!
Ich hab nix anderes zur Hand, also nehm ich meine Maske und wische den Scheiss auf. Es ist eh keiner hier, den ich oder der mich anstecken könnte.
Ich fahre los. Durch die niedliche Altstadt von Grosio und komme an dem Fluss an, dem ich gestern gefolgt bin. Der ist nicht mehr kristallklar, sondern eine hellbraune, wild reissende Wassermasse. Junge, was muss das heute Nacht geregnet haben.
Vor mir liegt der Passo del Foppo, es sind ca. 15 km bis zur Passhöhe - diesmal ohne Nachlademöglichkeit. Andreas Albrecht, von dem ich mir die GPS-Routenplanung käuflich erworben habe, gibt hier den ausdrücklichen Hinweis vor: „Wer Bedenken hat, kann sich einen Shuttle organisieren.“
Ich bin mir sicher
Zumindest bin ich mir sicher, dass es heute schönere Orte gibt als sich hier den Pass hochzuquälen. Aber ... freies Land, freie Bürger, es ist meine Entscheidung.
Serpentine an Serpentine, Kurve an Kurve, Rampe an Rampe. Es kommt derart viel Wasser vom Himmel, dass sich kleine Bäche gebildet haben. Mein Vorderrad teilt das Wasser, es spritzt von unten hoch. Hinten auch. Das Steckschutzblech hat nur mäßige Wirkung. Oder ist es das Wasser, was von meinem Rucksack auf die Hose läuft? Man weiß es nicht. Es kommt von überall her.
Nach ein paar hundert Metern bin ich patschnass. Ich halte mal kurz an. Nach 10 Sek. ist meine Brille beschlagen, so dass ich nichts mehr sehen kann. Ab damit. Ich dampfe. Helm auch ab. Nützt ja nix.
Ich fahre weiter. Mir kommen ab und zu Autos entgegen, während ich langsam, aber stetig die Rampe hochtrete. Meine Beine brennen. Noch mehr Unterstützung reingeben? Ich bleibe auf der zweitkleinsten Stufe. Ich will ja oben ankommen. Ich schnaufe. Mittlerweile bin ich so durchgeschwitzt, dass ich von innen wie von aussen genauso nass bin.
Von-oben-von-unten-von-aussen-von-innen-von-links-und-von-rechts
Dass meine Socken wieder denselben Wasserpegel wie gestern haben, juckt mich schon nicht mehr. Das Wasser schwappt mit jedem Tritt fröhlich hin und her in meinen Schuhen. Die nenne ich übrigens ab sofort Beiboote. Getauft habe ich sie auf den Namen: Titanic II
In den nächsten Kurve kommt mir ein Pickup entgegen. Übrigens fahren hier fast ausschliesslich Allradfahrzeuge rum. Ergibt Sinn. Der Fahrer schaut mich ungläubig an.
3.500
Ich komme an einem Strassenschild vorbei, auf dem Passo Mortirole steht. Und die Zahl 3.500 m. „Geil“ denke ich mir, „Das ist ja gar nicht mehr so weit bis zur Passhöhe. Läuft doch heute besser als gedacht.“
500 m weiter lese ich auf dem nächsten Schild 4.000 m. Fuck! Ganz klein darunter steht dann 11.000 m. Das ist dann wohl die Entfernung zur Passhöhe.
Challenge accepted
Ich erklimme Rampe um Rampe. Kurve um Kurve. Auf dem nächsten Schild steht 13%. Gefühlt sind es 30%. Aber immerhin wird der Regen weniger. Ich schaue ins Tal und merke, ich bin über der Wolkendecke. Grosio ist in Watte gehüllt. Ich schaue nach oben: Noch eine Wolkendecke. Und ich mitten dazwischen. Die Gipfel sind im Nebel. Eine unwirkliche Situation.
Ein Auto überholt mich und ich sehe einen kleinen Schuljungen hinten drin sitzen, der mich mit offenem Mund anstarrt. Bin ich denn wirklich so über (m)eine Grenze(n) gegangen? Spoiler: Ich bin nicht alleine mit dem Plan, heute den Passo del Foppo zu erklimmen.
Passo del Foppo? Oder Passo Mortirolo?
Es ist beides richtig. Der urspüngliche (und richtige) Name ist Passo del Foppo. Bei einer Etappe der Giro d‘Italia hat einmal ein Reporter aus Ortsunkenntnis den Namen Passo Mortirolo genannt. Der ist aber tatsächlich ein paar km weiter. Passo Mortirolo ist in den Sprachgebrauch übergegangen und verfestigt. So heisst der Pass nun im Volksmund.
6
Die nächste Kurve. Hier steht ein Schild mit der Zahl 6 drauf. Und ich lese das Wort „Giro“. Ja, ich bin hier genau auf DER Passstrasse, wo DER Giro d‘Italia lang führt. Geil.
5
Wieder eine steile Rampe. Ab hier stehen in großen Lettern Wörter zur Motivation auf den Asphalt geschrieben. „Super“, „Hoppa“, „Go go go“. Ich bin beflügelt, fühle mich gleich ein Stück schneller. Der Regen wird stärker. Und es wird merklich kühler.
4
Ein Motorrad fährt eine kurze Weile hinter mir her. Ich kann es nicht sehen, Denn umdrehen ist nicht, höre aber, es muss eine dicke Reisemaschine sein. Es setzt zum Überholen an. Fahrer und Beifahrer sind in Neon-Regenklamotten eingepackt. Geil, denke ich mir, genau wie die Kameramotorrädern bei der Giro.
3
Das Motorrad gibt Gas und ist schon in der nächsten Kurve verschwunden. Ich denke mir nur noch: „Tiramisu“ Zieh mich hoch, so die deutsche Übersetzung für die leckere Süssspeise. Ein zweideutiges Stoßgebet.
2
Jetzt sind sogar Namen der Stars auf der Strasse aufgemalt. Ich lese „Philippe, Pepe, Massimiliano, Alberto, Peter“. Nur mein Name steht nirgends. Naja, es stehen ja auch keine Zuschauer am Strassenrand, die mich anfeuern.
1
Die letzte Kurve!!! Yeeehaaa!!! Wobei, nee, echt jetzt? Ist das euer Ernst? Gerade waren es doch noch so kurze Teilstücke. Wieso ist denn jetzt die Rampe wieder so lang? Egal, durch da.
Ich komme an der Passhöhe an und entdecke eine kleine, aber hochmoderne Schutzhütte. Keine Zeit zum Freuen, ich muss aus den Klamotten raus. 1 min in der Kälte stehen und ich fange an zu zittern. Na das kann ja was werden auf den nächsten 30 km.
Ich wechsele meine kompletten Klamotten. Weg mit dem nassen Zeug, ab in den Rucksack. Zwiebeltaktik ist ab jetzt angesagt. (Es riecht auch in etwa so.) Ich trockne mich ab, zumindest das, was so gut als möglich geht. Meine Beine haben Gänsehaut. Das ist ja auch kein Wunder, denn je 1.000 Meter Höhenzuwachs kühlt die Luft um 10 Grad ab. Im Tal waren es 17 Grad. Hier sind es 7. Der Sturm zerrt an der Hütte wie an einer Unterkunft der Polarexpedition. Peitschender Regen.
Ich hab mich in dieser Schutzhütte komplett ausgebreitet. Ist ja eh niemand unterwegs außer mir. Dachte ich. Plötzlich kommt ein italienischer Rennradfahrer rein. Ca. 10 Jahre jünger als ich. Seine Waden sagen mir, der ist Samstags öfters hier oben. Das zeigt auch seine Routine. Alles ausgezogen, kompletter Klamottenwechsel. Mit komplett meine ich komplett. Außer die Maske, die behält er vorbildlich auf.
Ich brauche Brennstoff
Ich zittere. Mein Körper will Wärmeenergie produzieren. Verständlich. Also wieder komplett rein in die Klamotten, einen km hinter der Passhöhe soll das Albergo Mortirolo sein.
Bike draussen angeschlossen, Akku raus, rein ins Albergo, mit Maske selbstverständlich, Klamotten wieder aus, Akku ans Ladegerät angeschlossen. Ich bestelle mir einen Cappuccino und einen Teller Ravioli.
Ein etwas verschlafener Ort, nur ein paar Einheimische sitzen am Tisch nebenan und palavern in herrlich italienischer Sprachgestik.
Ich bin nicht alleine
So nach und nach kommen kleine Grüppchen von Rennradfahrern rein, trinken nen Cappuccino und gehen wieder. Alles dabei: Junge, Ältere, athletische und eher gemütliche Typen. „Aha“, denke ich mir „Samstags wird hier Sport gemacht.“ Später wird mir klar, die haben ja gar keine Strecken hier, wo es einfach nur platt geradeaus geht. Was haben wir für einen Luxus zuhause im Oldenburger Münsterland?
Die Ravioli sind ein Traum. Das Schüttelbrot ebenso. Apropos Schütteln: Die Schuhe bitte nicht bewegen, die Socken sind voll mit Wasser. Jede Bewegung fühlt sich kälter an. Also schön die Füsse stillhalten.
Die älteren Einheimischen feixen rum. Hört sich toll an, auch wenn ich nichts davon verstehe. Ein Handy klingelt. Der Klingelton muss ein traditionelles italienisches Lied sein, denn einer der beiden Opas fängt sofort an zu tanzen. Die Oma klatscht dazu im Takt. Was für eine herrliche Szene.
Jetzt reichts
Ich denke mir, der Akku müsste doch schon ganz gut geladen sein, so weit ist es doch gar nicht mehr. Ich mach nochmal schnell Pipi. Dann also alle Lagen übereinander angezogen. So viel, wie es geht. Ich schaue nochmal auf die Rennradfahrerbeine von gegenüber: Die haben nix drüber an, also mach ich das auch so. Akku rein, Schloss ab, Stecklichter ran, auch vorne (Später weiß ich, das war eine goldrichtige Entscheidung, denn in einer Kurve werde ich tatsächlich fast übersehen. Das blinkende Frontlicht rettet mich in letzter Sekunde.)
Es geht jetzt die nächsten 17 km nur bergab. Die Bremsen quietschen. Meine Finger werden taub. Ich muss meine Hände immer wieder ausschütteln, so doll ist der Bremsdruck. Mir fällt auf, dass die hintere Bremse sich weiter durchziehen lässt als vorne. Kein gutes Zeichen. Muss ich mal im Auge behalten.
Kurve 11
Ich muss schon wieder Pipi. Ey, ich war doch grad schon, warum jetzt schon wieder. Mir ist saukalt. Meine Finger sind taub. Mein Pimmel ist sooo klein. (Ich nenne ihn ab jetzt liebevoll „The Shrimp“). Scheisse, ist mir kalt. Um den Lurch dort rauszufriemeln, muss ich eine unothodoxe Haltung einmehmen. Das wäre echt was für die Show „Das Supertalent“. Ich meine, durch die ganze Lagen erstmal durchkommen, nix auf die Hose oder Schuhe kommen lassen, das ist schon ne Leistung. Ich packe alles wieder ein, auch „The Shrimp“ ist kühler und kleiner als üblich. Der letzte Strahl geht in die Hose. Immerhin ist es schön warm.
Jetzt auch egal
Zig Sepentinen weiter unten fangen meine Arme so doll an zu zittern, dass mein Lenker anfängt zu flattern. Das ist vielleicht mal ein Scheissgefühl so bergab. Rechts die Bremse hat kaum noch Druckpunkt. Ich schaffe es aber noch, sie testweise zum Blockieren zu bringen. Sollte bis zum Gardasee wohl noch reichen.
Das Bergvolk hier fährt einfach anders Auto, als wir es kennen. Es überholt mich eine Ape (Vespa mit Kabine, Pritsche und drei Rädern) mit einem lässigen Opa drin. Der tritt das Gasppedal bis zur nächsten Kurve nochmal voll durch. Junge, was hat der für ein Vertrauen ins Material.
Es donnert
Unten im Tal angekommen, fahre ich auf einer Schnellstraße. Es gibt keinen Radweg. Also Vollgas. Akku hat ja noch reichlich drin. Es schüttet aus Kübeln. Eine Temperaturanzeige zeigt 14 Grad. 24 Grad wären mir lieber.
Ein paar km weiter kommt ein Schild mit dem Hinweis „Strada Cicliable“, also fahrradfreundliche Straße. Ich folge dem Schild. Ich komme am Fluss vorbei, der ebenso reissend, wild und braun ist wie an meinem Start heute morgen. Ich folge dem Radweg, der sich am Flussufer entlang schlängelt. Bestimmt schön hier bei Sonnenschein. Ich schalte in die höchste Stufe und gebe Vollgas. Mir ist kalt, ich will nur noch ins Hotel. Heiss duschen.
Ein paar km später kommt eine überdachte Brücke, die über den reissenden Fluss führt. Ich bemerke noch die durchgerissenen, rot-weissen Absperrbänder, bin mir nicht sicher, ob ich da durch fahren kannn. Ach was, weiter gehts schon irgendwie.
Es sollte ganz anders kommen
Der Radweg führt jetzt rechts am Fluss entlang. 5 km durch Waldgebiet, rauf und runter. Echt hübsch, nur nicht heute. Dann, plötzlich, auf einmal ist alles anders. Es liegt Totholz auf der Strasse. Links auf der Wiese auch. Man sieht an den abgeknickten Halmen, dass sich hier eine Menge Wasser durchgefräst hat. Ich fahre langsamer. Geröll liegt auf dem Radweg. Ich höre einen Bagger, kann ihn aber nicht sehen. Erst jetzt realisiere ich, dass hier eine Schlammlawine abgegangen ist. So viel Spuren sind da nicht, dass muss gestern oder vorgestern passiert sein. Ich steige ab. Meine Schuhe sinken im Schlamm ein. Ich gehe noch ein bisschen weiter, merke aber, das ist nicht sicher, was ich hier mache.
Ich drehe um
Fuck. Der letzte Abzweig zur höher gelegenen Strasse ist 5 km zurück in Vezza d‘Oglio Und es gibt keine Möglichkeit, zwischendurch abzukürzen. Hmmmpf. Also reingehaun. 5 km wieder zurück. Und dann nochmal wieder bergauf, wo ich zwar schon war, allerdings durch den Ort selber.
Irgendwo muss doch hier das Hotel sein. Ich hole das Handy raus. Total nass. Navi? Fehlanzeige. Zum Glück hatte ich mir einen Screenshot gemacht. Nur komm ich da nicht so einfach ran, denn meine Finger sind so aufgeweicht, dass der Fingerprintscanner nicht mehr funktioniert. (Erst später realisiere ich, dass ich im Ort vor Vione war). Aber immerhin kann ich von hier den Bagger sehen.
Aha, alles klar, das Hotel ist gar nicht hier im Ort, sondern im Ortsteil oberhalb von Vione. Jetzt nur noch die richtige Strasse finden. Ich brauche mehrere Anläufe. Manchmal ist es eine Sackgasse, manchmal eine Privatstrasse. Also immer wieder umdrehen. Die Strassen hier sind so unglaublich steil. Und beim Weg zurück runter denke ich mir: „Fuck, das ist nicht gut mit der hinteren Bremse. Geht noch so gerade. Aber gut ist was anderes.“
Die letzten km
Die letzten 1,5 km sind so steil, dass ich den TURBO einschalten muss. Geht nicht ohne. Es blitzt und donnert. Ich komme im Hotel an, checke ein und frage nach einem Bikeshop. Im nächsten Ort wäre einer. Also los.
Ich muss dreimal zwischendurch anhalten, weil ich wieder aufs Navi schauen muss. Ich habs so einigermaßen wieder trocken. Allerdings merke ich erst jetzt, dass meine Aufzeichnungen bei Strava und Relive fürn Arsch sind. Das GPS hatte massive Aussetzer. Fuck-o-matic.
Der Bremshebel für die hintere Bremse lässt sich jetzt komplett bis zum Anschlag durchziehen. Bremsleistung? Fehlanzeige. What a fucking day.
Der Bikeshop ist schnell und hilfsbereit. Die hinteren Bremsbeläge sind komplett runter. Also wechseln. Die Bremsscheibe ist blau angelaufen. Die hat wohl gut Hitze entwickelt. 30 € kostet der Spass. Augen zu und Karte durch.
Mein Akku ist am Ende
Jetzt muss ich die 4 km nur noch zurück zum Hotel. Die Brille beschlägt. Also Unterstützung auf OFF, ich muss Akku sparen. Ich trete volles Mett rein und hab 40 km/h drauf. Irre, was so ein Körper alles leisten kann. Erst jetzt realisiere ich, ich habe ja immer noch die Maske auf. Kein Wunder, dass ich nix sehen kann. Eine Auto kommt mir entgegen und brettert durch eine große, tiefe Pfütze. Kompletter wipeout, ich bekomme die volle Ladung Wasser ab.
300 m vorm Ziel ist der Akku platt. Nix geht mehr. Also absteigen und schieben. Es geht steil bergauf. Ich laufe durch die Sturzbäche, die die Strassen runterfliessen. Die Kanalisation kann die Wassermassen längst nicht mehr aufnehmen. Jeder Schritt drückt Wasser aus meinen Beibooten. In den GoreTex-Socken schwappt das Wasser hin und her.
Ich bin im Hotel
Bike in die Garage. Hey, immerhin haben die einen Skistiefeltrockner, den darf ich auch benutzen. Geil, wenigstens keine nassen Schuhe morgen. Also die ersten 5 Min, meine ich.
Ich gönne mir eine lange, heisse Dusche. Lang deshalb, weil es Ewigkeiten dauert, bis Warmwasser kommt. Ich bin mit Socken rein. Ist jetzt eh egal. Dann klingelt mein Telefon. Egal. Es klingelt nochmal und ich denke mir „Alter, was ist los?“. Ich trete aus der Dusche, gehe ran, alles tropft, eine unbekannte Berliner Nummer ist dran.
„Hallo“
„Ja Hallo“
„Hallo?“
„Ja, hab ich gerade gesagt.“
Pause
„Mache Sie Hosereparaturen?“
„Zu wem wollen Sie denn?“
„isch hab Nummer aus Internet.“
„Das mag ja sein, aber ich bin das sicher nicht.“
„Ja, aber das ist 0800 Nummrn“
„Ja, aber DAS BIN ICH NICHT.“
„Ja aber“
„NIX ABER“
Es reicht für heute.
Eine halbe Std später telefoniere ich mit meiner Herzdame. Ich frage sie, „Und, wie warm war es denn heute so in Meran?“
24 Grad
Ich merke, meine Resilienz wird heute ordentlich auf die Probe gestellt.
Sonnige Grüße
Jens
PS: Rechtschreibkorrektur fällt heute aus. Der Grund dafür ist nachvollziehbar.
PPS: Nur fürs Protokoll. Meine Radklamotten hab ich ordentlich ausgewaschen und fein säuberlich zum Trocknen aufgehängt.
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Über den Autor:
Jens Mlinarzik, 50 Jahre alt und von Beruf selbstständiger Markenberater und Experte für Positionierung. Ich komme ursprünglich vom BMX (fahre ab und zu auch selber noch auf der Bahn in Vechta – leider viel zu selten), bin begeisterter Radfahrer und hab den halben Keller voller kleiner, feiner Schätze, die jedem Rennradfahrer das Herz aufgehen lassen würden. Meine Herzdame schläft eher ein, wenn ich wieder mal enthusiastisch davon erzähle, welche Schrauben ich gerade bei eBay ersteigert habe.
Mein E-Mountainbike ist ein Haibike XDuro NDuro 10.0 auf dem Jahr 2018.