1817 Bünger Bikes

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Das war knapp - Tag 5/6

Von Garmisch bis zum Gardasee #9

Lesezeit: 8 Min.

Junge Junge, was bin ich müde. Also im Kopf. Nicht, dass ich nicht ausgeschlafen wäre. Aber mental ist das hier und jetzt echt schon ne Nummer. 

5.27 Uhr

5.10 Uhr

4.12 Uhr

Ich wache jeden Tag früher auf. Zum Glück kann ich - nachdem ich noch ein paar Gedanken herunter geschrieben habe - wieder einschlafen. 

Es ist 7.45 Uhr

Geil. Frühstück gibts um 8.30 Uhr. Passt super von der Zeit her. Schnell noch einen Karten- und Wettercheck: Sieht nicht so gut aus.

Ab in den Keller, Akkucheck, Kettenpflege (diesmal hab ich dazugelernt und Klopapier ausgelegt), Schuhe vom Trockner geholt (die sind natürlich nicht trocken), Bremse gecheckt (Hmmm, die fühlte sich gestern besser an. Ziemlich langer Hebelweg). Ab aufs Zimmer, Sachen gepackt, abreisebereit. 

Ich fahre extra etwas später los, damit ich eine Regenpause erwische. Ich hab Glück und fahre los. Rücklicht an (Fuck, defekt). Bei der Fahrt vom Hotel runter ins Dorf will ich bremsen. Vorne geht gut, hinten nicht gut. Ich muss 20x pumpen, damit da spürbar Bremsleistung entsteht. 

Der Bikeshop, wo ich gestern die Bremsbeläge hab wechseln lassen, hat natürlich geschlossen. Ist ja auch Sonntag. Naja, ich fahr erstmal los. Vielleicht gehts ja doch irgendwie. 

Trampolino Gigante „Gia“ Littorio

Ich fahre jetzt in Richtung Passo Tonale. Ab und zu blitzt die Sonne durch. Sehr schön. Bei der Einfahrt zum Pass komme ich an einer - zugegebenermaßen wirklich gut gestalteten - Talstation vorbei. Ich bin hier mitten im Skigebiet. Ein paar Meter weiter ist eine Skisprungschanze aus dem Jahr 1929. Niedlich, verglichen mit der Anlage aus Garmisch. „Gigante“ ist vielleicht etwas übertrieben, aber vielleicht war die damals wirklich riesig. 

Gondel oder Strasse?

In der Streckenplanung steht beschrieben, dass man hier auch die Gondel nehmen kann. Ich verzichte dankend, freue mich über den Sonnenschein und kurbel los. Ein paar Spitzkehren höher wirds sehr viel kühler. Also anhalten, Ärmlinge raus, Zeit für ein Foto. Sehe ich da oben Schnee? Tatsache. 

Meine Bremse hat mittlerweile null Bremswirkung mehr. Ich kann den Hebel komplett durchziehen. Nix Bremse mehr. Fuck. Nach der Passhöhe geht es 30 km bergab. Und das nur mit Vorderbremse? Mir wird flau im Magen. 

Vor mir ein älteres Päärchen mit teuren Mountainbikes und überaus trainierten Waden. Schöner Sport. Macht zumindest tolle Waden. Ich halte nochmal kurz an, das Panorama ist atemberaubend. Sehe ich da einen Gletscher? Ja, ein Gletscher. Cool. 

Passo Tonale

Oben angekommen mache ich mich erst einmal auf die Suche nach einem Bikeshop. Ich bin mitten in einem Ski- und Radsportgebiet gelandet. Lifte, Downhillstrecken, alles da. Nur keine Gäste. Alles zu. Na super. 

Ich google mal einen Shop, fahre dort hin. Geschlossen. An der Tür ist ein Zettel mit einer Telefonnummer. Die rufe ich an, der Besitzer ist 5 min später da. Kann er helfen? Der Fehler ist schnell gefunden. Es fehlt ein bisschen Hydrauliköl. 

Oh oh, Magura

Nein, er kann nicht helfen. Er würde gerne, aber die Downhillbikes, die er im Laden verleiht, haben allesamt Bremsen mit DOT-Hydrauliköl. Magura verwendet ein spezielles Öl. Das hat er nicht. Ist wohl nicht so üblich im Downhillbereich. Damn. 

Ihm tut es sichtlich leid, dass er mir nicht helfen kann. Runter, hier vom Passo Tonale, bis runter nach Dimaro ... das ist wohl keine gute Idee. Ich sehe es an seinem Blick. 

Was tun?

Er gibt mir den Tipp von einem anderen Laden, der sich mit E-Bikes auskennt. Aber ob der auf hat? Kann sein. Kann aber auch nicht sein. Ich spiele mit dem Gedanken, nur mit einer Bremse abzufahren. Eine überaus dumme Idee. 

Ich suche und suche und suche. Ich finde dieses Hotel nicht, wo der Bikeshop drin sein soll. (Schöne Grüsse an das Hotel Miramonte in Passo Tonale. Ich richte euch gerne mal einen Google My Business Eintrag für euch ein. Inkl. Öffnungszeiten). Endlich: ich stehe genau davor. Leider auch ohne Schild dran. Und: Geschlossen. 

Serious Problem

Drinnen ist es dunkel, ich rüttel trotzdem mal an der Tür. Dann macht ein Italiener mit Maske und beschlagener Brille die Tür auf und sagt: „We are closed!“

„Yes, i respect that, but i have some serious problems with my rear brake.“

Er schaut erst mich und dann den wirkungslosen rechten Bremshebel an ... und schaut mich mit fassungsloser Miene an. 

No problem, we will help you 

Was ich jetzt erst sehe, er hat einen HAIBIKE Hoodie an. Ich denke „Hier bin ich genau richtig!“ Er holt seinen Kollegen hinzu und dann geht alles ganz schnell. Der Eine verschwindet im Servicetruck und kramt das richtige Öl raus. (WTF, Magura. Warum nutzt ihr solch ein spezifisches Öl, was keiner hat?) 

Mit dem Anderen versuche ich eine Konversation. Holprig. Windig ist es. Und arschkalt ist es auch noch. Aber er sagt über mein Rad mit einer wertschätzenden Geste: „Nice bike!“

Assolutamente

Der Mechaniker weiss, was er zu tun hat. Mit geschickten Handgriffen und dem richtigen Werkzeug ist das Ganze in 10 Min wieder in Ordnung. Ein Bremstest: 100% Bremsdruck.

Ich bin glücklich. Als er mich fragt, wo ich herkomme und wie lange ich schon unterwegs bin, kommen wir ins Gespräch. „You‘re a strong man.“ Er fragt mich, was ich so beruflich mache. Ich erzähle ihm von dem Blog und zeige ihm die 1817 Bünger Website. „Did you do this site?“ „Yes, i did.“ „Very nice.“ Er will mir unbedingt seine Visitenkarte geben. Wir machen noch einen Abschiedsselfie, ich verlinke seinen Shop auf Insta und verabschiede mich. Die beiden sehen auch glücklich aus. 

Der Weg runter geht über einen Trail, der so lecker ist, dass ich dem Erbauer die Füsse küssen möchte. Schön breit, toller Schotter, super flowig zu fahren. Immer wieder wird die Serpentinenstrecke durch wilde, kleine, reissende Bäche gekreuzt, die den Berg runterkommen. Mal kleiner, mal grösser, mal 10 cm tief, mal 30 cm Zum Glück geht die hintere Bremse wieder, denn ich muss schon mächtig Geschwindigkeit runterbremsen vor diesen  Passagen. Also Gewicht ganz nach hinten und so doll bremsen, bis der Hinterreifen kurz vorm Blockieren ist. Ohne hintere Bremse wäre das der blanke Horror geworden. Nicht auszudenken. 

Ich komme mir vor wie ein Skifahrer, der eine Riesenslalompiste runterbrettert. Allerdings sind meine Füsse taub von der Kälte. Eigentlich kein Problem, nur will ich nach einer Fotopause wieder einklicken in die Pedale ... es dauert 100 m, bis ich drin bin. Kein Gefühl mehr. 

B&B Jolly

Irgendwann komme ich - immer noch total euphorisiert - in Dimaro an. Weil ich oben am Passo Tonale auf die Mittagspause verzichten musste PLUS dass ich erst um 10.30 Uhr los bin, war jetzt eine längere Pause angesagt. Der Akku ist fast leer. 

500 m vor dem Jolly ist die Strasse gesperrt. Schilder: Auf Italienisch geschrieben. Iche nixe capisce. Ich schaue mich um, kann aber nix Ungewöhnliches erkennen und fahre trotzdem durch. 

Keine gute Idee. Ein weißer Jeep nimmt sofort die Verfolgung auf und erreicht mich hupenderweise kurz vor der Strassensperre auf der Gegensseite. Er redet wild auf mich ein. Ich verstehe nur „Aqua“ und „Montana“. Mir fällt auf, dass die Häuser hier zwar sehr gepflegt aussehen, irgendwie ist hier aber nix los, eine Totenstille, sozusagen. Schulterzuck. 

Angekommen im Jolly, einen kleinen B&B mit einer Bar, setze ich mich an einen Tisch und bestellle einen Cappuccino. „Auch was zu essen? Ich kann ein Toast machen.“ fragt mich die Inhaberin mit deutlich italienischem Akzent. „Gerne. Ich nehme eins ... nein ... ich nehme zwei. Grazie mille.“

Es giesst jetzt in Strömen

Ich rechne. 900 hm auf 18 km Strecke —> 2.25 Std aufladen. Jetzt ist es 15.30 Uhr, also kann ich um 17.45 Uhr weiter. Passt. Denn ich will die Pause dazu nutzen, diesen Blog zu schreiben. Ich komme nicht dazu. Sie setzt sich neben mich und wir plaudern. Irgendwann fragt sie mich „Stimmt das, dass ihr in Deutschland keine Maske tragen müsst?“ Ich korrigiere ihr Bild und erzähle ihr von der seltsamen Mischung der Leute auf den Demos, die zur Zeit in Berlin stattfinden.  Sie sagt, in Italien ist es auch so. 

Irgenwann wann kommt ihr Mann runter und setzt sich zu uns. Er ist 83 Jahre, spricht auch ganz passabel Deutsch und eine tolle Konversation beginnt. Über Düsseldorf, Bremen, Nordsee, Oktoberfest und Mercedes-Benz. 

Du bist heute sexy

Seine Frau schaut an ihm runter und sagt: „Du bist heute sexy!“. Sie meint die beiden verschieden farbigen Socken an ihm. Er antwortet irgendwas charmantes auf Italienisch. Und lächelt. 

Dann erfahre ich, dass er 1968 als Gastarbeiter nach Sindelfingen gekommen ist und dort gearbeitet hat. Seine Frau ist 4 Jahre später nachgereist und hat ebenfalls bei Mercedes-Benz gearbeitet. Seit 1980 sind sie wieder in Dimaro und haben das Jolly aufgebaut. Toll. 

Er ist sehr interessiert an meinem Bike und will sich alles erklären lassen. Besonders die Akkutechnik hat es ihm angetan. Er will wissen, mit welcher Stromaufnahme der lädt. Das Einzige, was ich ihm dazu berichten kann, ist, dass es 3 Std dauert bis der voll ist. Und das mit den 500 Wh, was ich vor ein paar Tagen schonmal ausgeführt habe. 

Ich muss googlen

Irgendwie reden wir aneinander vorbei. Er fragt nach dem Stromnetz in Deutschland. Ampere und so. Junge, frag mich doch bitte nicht sowas (Jens und Strom in einem Raum ist keine glückliche Kombination). Er macht einen Vergleich mit Motorrad und Literverbrauch. Wir kommen nicht weiter. Ich google und erfahre, dass ein 500 Wh Akku etwa 500 Ladezyklen aushält und dabei ca. 75 € an Stromkosten erzeugt. Kann das sein? 15 Ct pro Ladevorgang? Er ist skeptisch. Ich bin es auch.

Der Laden scheint ein Geheimtipp zu sein. Es kommen immer mal wieder Leute rein, trinken Espresso im Stehen. Oder Bier. Ich will bezahlen und soll unbedingt seinen Kamillenschaps probieren. Danke, nein. Ich packe meine Sachen und will bezahlen. 

Jetzt nen Schnaps?

„Das macht 14 Mark achtzig, bitte.“ Ich muss grinsen und denke mir, der mag Deutschland wohl ganz gerne, wenn er jetzt noch von D-Mark spricht. Ich gebe 15. Jetzt MUSS ich den Schnaps probieren. Scheisse, der ist gut. Als ich aufschaue, hält er mir eine kleine Flasche vor die Nase: „7,50“ Die Situation ist so köstlich amüsant, dass ich ihm 10 gebe und die Flasche einpacke. Er will mich herzen, allerdings ist die Theke dazwischen. Er reicht mir die Hand. Sein Sohn ebenfalls. Skurille Situation, so mit Maske auf. Und trotzdem sehr menschlich. 

„Ach, was ich noch fragen wollte: Warum ist die Strasse gesperrt?“ Die beiden antworten: „Wegen der Lawina. Schlammlawina.“ Heute Morgen wurde der ganze Hang evakuiert. Alle mussten aus ihren Häusern raus. Vor zwei Jahren ist hier eine Schlammlawine heruntergekommen und hat den Campingplatz plattgebügelt.“ Ich sag jetzt besser nicht, wo ich vorhin lang gefahren bin. 

Sonne!!!

Die letzten 18 km bergauf. Serpentine an Serpentine. Mir wird kalt. Mein Atem kondensiert beim Ausatmen. Ziemlich viele Autos auf der Strecke. Ich weiche irgendwann auf den Trail aus. Kurz vorm Ziel bin ich mitten auf einer Skipiste. Da steht ein Pistenbully. Mein Nacken schmerzt.

19.35 Uhr

Angekommen im Hotel. Mit 1 km Restreichweite. Das war knapp. 3x knapp heute, sozusagen.

Alles Nasse ausgebreitet. Heiss duschen. Ab in die Pizzeria. Die Quattro Formaggi tut wahnsinnig gut. Morgen ist die letzte Etappe. Nur noch 93 km bis zum Ziel. 

Ich bin emotional am Ende. 

Sonnige Grüsse

Jens

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Über den Autor:

Jens Mlinarzik, 50 Jahre alt und von Beruf selbstständiger Markenberater und Experte für Positionierung. Ich komme ursprünglich vom BMX (fahre ab und zu auch selber noch auf der Bahn in Vechta – leider viel zu selten), bin begeisterter Radfahrer und hab den halben Keller voller kleiner, feiner Schätze, die jedem Rennradfahrer das Herz aufgehen lassen würden. Meine Herzdame schläft eher ein, wenn ich wieder mal enthusiastisch davon erzähle, welche Schrauben ich gerade bei eBay ersteigert habe. 

Mein E-Mountainbike ist ein Haibike XDuro NDuro 10.0 auf dem Jahr 2018. 

https://www.expertenfuerpositionierung.de/