Bäbäääm - Tag 6/6
Von Garmisch bis zum Gardasee #10
Lesezeit: 10 Min.
Die letzte Etappe. Bis zum Gardasee ist es nicht mehr soooo weit. Die Routenplanung macht zwei Vorschläge. Ich entscheide mich für die „leichtere“, aber längere Strecke. Aus drei Gründen: Erstens gibt es in der Hauptroute Passagen über Wiesen, die bitte nur im Trockenen befahren werden sollten, weil Grip und so. Ein Blick nach draußen: Es hat in der Nacht geregnet. Hmmmpf. Aber: Es trocknet gerade ab. Das ist gut. Ein Blick in den Himmel lässt mein Herz höher schlagen: Federwolken. Sehe ich dazwischen blauen Himmel? Es ist noch zu dunstig.
Zweitens: Die Hauptroute enthält steile Schiebepassagen über Baumwurzeln. Sicher reizvoll, ich winke dankend ab.
Drittens: Die Nebenroute hat nur einen Anstieg statt zwei, aber da die Routenplanung ja „nur“ bis Torbole geht, ich aber bis zum Hotel nach Malcesine noch 17 km draufrechnen muss, ist die Strecke ja länger als vorgeplant. Ausserdem gehts am Schluss am Monte Baldo noch 300 hm hoch bis zum Hotel. Isch frrrreeeeuu misch drrauf - noch nicht wirklich.
Ein Bild für die Götter
Wobei ich bei der Situation mit dem Blick aus dem Hotelzimmer .... ja, hmmm ... Ich musste ohne Unnerbüx schlafen ... alles dick eingecremt da unten .... die leichte Unterhose schubberte an den pikanten Stellen ... also Entscheidung getroffen: UNTEN OHNE SCHLAFEN.
Nur dachte ich heute morgen nicht mehr daran, als ich die schweren Gardinen mit einem schnellen, kräftigen Ruck beiseite schob. Ein Bild für die Götter. Wer jetzt an die Szene aus dem Film DAS LEBEN DES BRIAN gedacht hat, liegt goldrichtig.
93 km
Die Abfahrt aus Madonna di Campiglio ist einfach toll. Ein gut und gern besuchter Skiort, inmitten der Dolomiti Brenta Gruppe. Man sieht es an den Hotels, Geschäften und Restaurants, die alle auf ihre zahlenden Touristen ausgerichtet sind. Sehr schön gemacht hier. Man lässt es sich gut gehen.
Mitten im Ort fahre ich an einer Promotionaktion von AUDI vorbei. Hier kann man den e-tron probefahren. Das muss wohl so zielführend und gleichzeitig lukrativ sein, dass die Edelmarke aus Ingolstadt gleich einen ganzen fest installierten Pavillon mit Lounge und Mulitimedia und Ladestation dort aufgebaut hat. Man könnte dort drin wohnen. Draussen davor steht dieses Riesenschiff und saugt Energie aus seiner Ladesäule. So sieht wohl die Zukunft aus.
Ich schaue auf mein Display, der Computer errechnet 186 km Restreichweite. Ich denke mir „Bisschen optimistisch, mein Bester.“, drücke eine Taste auf der Unterstützung höher, nehme Fahrt auf und freue mich auf den Lago und das Wiedersehen mit Anja. Eine Temperaturanzeige an einer Apotheke zeigt 6 Grad an. Zum Glück habe ich heißes Wasser in meine Trinkblase eingefüllt. Etwas Warmes braucht der Mensch.
Das ist grad auch das Einzige, was mich antreibt. Die Schmerzen untenrum sind schon ziemlich unangenehm. Ich hatte, nach der Pipistrahl-Aktion vor zwei Tagen meine Radhose ausgewaschen. Nach dem Trocknen habe ich das Polster wieder eingecremt. Richtig gelesen, das Polster. Ok, Schnipi aka „The Shrimp“ und der „Grand Canyon“ müssen ebenfalls sorgfältig eingecremt werden. Wenn Du in die Hose rein steigst und es sich anfühlt, als hättest Du dich nach einem Sommerregenschauer auf einen nassen Gartenstuhl gesetzt, dann, genau dann ist es richtig.
Aber das Polster nicht einzucremen kann böse enden. Irgendwie hatte ich zuwenig drauf gemacht. Es hat gerieben. Es ist unangenehm. Es schmerzt bei jeder Kurbelumdrehung.
Ach, da fällt mir bei der Geschichte ja nochwas ein. Schon einige Jahre her, es muss Anfang der 2000er gewesen sein. Damals war ich viel mit dem Rennrad unterwegs. Wir - ein paar Jungs - hatten uns in Nürnberg getroffen. Morgens, ich war noch nicht in meinen Radklamotten drin, entdeckt einer (der bereits komplett angezogen ist, inklusive Unterhose unter der Radhose) meine H&M Unterhose und meint:
Toll, da sind ja ganz flache Nähte drin.
Und jetzt?
Dann reibt das nicht so in der Radhose.
Ehm ... man zieht keine Unterhose unter der Radhose an ...
Ich hab mich schon gewundert, warum ich in keinem Radgeschäft Unterhosen gefunden habe. Immer nur Unterziehhemden, aber nix für untenrum.
Merkste selber, nech ...
Die Abfahrt vom Skigebiet wechselt sich ab: Asphalt, Serpentinen, Trails, Waldstücke, Wohngebiete, Felder, Sportstätten, usw. Eines ist an den meisten Stellen gleich: Auf meinem Weg fliesst immer wieder Wasser. Mal mehr, mal weniger. Man sieht den kantigen Granit, der in kiesel- bis backsteingroßen Stücken den Berg runter gekommen ist. Zusammen mit einer Menge Sand. An einer Strasse liegen tatsächlich an jeder Hauseinfahrt Wälle aus Sandsäcken. Sowas kennt man sonst nur aus dem Fernsehen.
Apropos Fernsehen
Ich fahre an einem MENZI MUCK vorbei. Jeder, der einen kleinen Jungen hat, der sich für Trecker und Bagger interessiert, weiß, um was für ein Modell es sich da handelt. Alle anderen nehmen mal das Handy in die Hand und googlen „Schreitbagger“. Das ist ein Bagger für Arbeiten im Gelände, wo man selbst zu Fuss nicht hinkommen kann. Geiles Teil. Sieht freaky aus.
Der Trail ist cool zu fahren. Auch wenn immer mal wieder massiv Wasser von unten hochspritzt. Es hat gestern wieder mal doll geregnet. So doll, dass selbst die steilen Waldwege, die sonst mit diesen Querrinnen eigentlich in der Lage sind, das Wasser abzuführen. Tiefe Rinnen, mitten in meiner Fahrspur. Ich muss höllisch aufpassen, das Vorderrad nicht zu verkanten. Drüberballern geht auch nicht, weil die Kanten vollkommen aufgeweicht und brüchig sind.
Och nö
Ab hier ist der Weg wieder gesperrt „Aha, die Strasse ist z.T. unterspült und weggebrochen.“ Der Weg zurück ... das wären bestimmt 3 km den Berg wieder hoch. Och nö.
Ich fahre trotzdem durch. Kein Jeep in Sicht, also durch da. Wenig später komme ich an eine Stelle, wo ein reissendes Bächlein den Weg kreuzt. Er hat viel Schlamm und Holz vom Berg mitgebracht. Keine Chance, da durchzufahren. Ich muss da zu Fuss durch. Natürlich tunke ich mit beiden Beibooten schön in den eiskalten Bergbach. Kleine Sünden bestraft der liebe Herrgott eben sofort.
Der Radweg Richtung Stenico ist mega. Ich komme mir vor wie auf einer Supermoto-Strecke. Geraden und Kurven wechseln sich ab. Als Begrenzung links und rechts sind gelbe Linien gezogen, plus eine weiße Mittellinie. Ich bin im Flow. Das macht so einen Spass mit dem E-MTB. Ich hab extra einen etwas höheren Riser Lenker draufgebaut. Damit sitze ich nicht so von-oben-drauf, sondern eher im-Bike. Vielleicht mag ich das, weil ich vom BMX komme. Jedenfalls bin ich jetzt und hier - auf der Rennstrecke - voll in meinem Element. Beim harten Anbremsen vor den Kurven nickt das Cockpit. Knie raus in den Kurven. Dann auf der Gerade wieder rausbeschleunigen. Junge, das macht Laune.
Hinter mir ein Fahrer mit einem Gravelbike. Also so eine Mischung aus Rennrad und MTB. Der ist schnell, soviel ist mal klar. Kein Wunder, sein Rad ist ja auch viel leichter und wendiger als mein klobiger Flunken.
Er sitzt mir im Nacken. Ich fühle mich ein wenig gehetzt. Er setzt an zum Überholen und gibt eine - ich hab es nicht genau verstanden - aber es hörte sich nach einer unsportlichen Geste an. Dann tritt er an und zieht von dannen.
Ich glaube, ich möchte auch so ein Gravelbike (Sorry, Anja, aber so eins hab ich noch nicht.)
Schön war dann aber auch die nächste Szene zu beobachten: Es geht jetzt nicht mehr nur bergab, jetzt haben wir einen (verhältnismäßig) kurzen Anstieg mit 8% Steigung. Er ist ca. 200 m vor mir und erreicht die Rampe als erster. Er wird natürlich langsamer. Ich auch, aber nicht so langsam wie er. Unser Abstand verkürzt sich. Er dreht sich um und schaut hektisch, wo ich bin. Noch 100 m entfernt.
Kurve um Kurve kneife ich mich ran. Ok, jetzt wirds noch steiler. Ich bleibe im ECO-Modus. Und dann, in einer Kurve, ist die Tür zum Überholen offen. Er erschrickt und verreißt den Lenker, kann sich aber noch fangen. Er hätte mich (noch) nicht so schnell erwartet. Angekommen an der nächsten Kuppe geht es wieder bergab. Ich gebe Gas, macht ja auch Spass. Ich drehe mich nicht um. Warum sollte ich auch?
Mittagspause in Ponte Arche, zwei Cappuccino, Akku aufladen, Blog schreiben, Rennradfahrer beobachten. Ein echtes Eldorado für Mountainbiker und Rennradfahrer. Ich glaube, das nächste Mal fahre ich hier mit meinem Rennrad hoch. Etwas wärmer ist es hier: 16 Grad.
Die Abfahrt zum Gardasee ist traumhaft. Ein prall gefüllter Obstgarten. Äpfel, Birnen, Trauben, alles so groß und im vollen Saft. Mein Mittagessen pflück ich mir direkt vom Baum. Man, was sind die Äpfel lecker.
Bäbäääm
Der Passo del Ballino ist überwunden, ab jetzt geht der Weg nur noch bergab. Also lass ich es laufen. Dann, in einer Kurve, blitzt er kurz zwischen den Bäumen durch: Der Gardasee. Ich hab es tatsächlich geschafft. Nur noch 10 km, dann bin ich in Riva.
Es folgt das obligatorische Bild, dann schlängele ich mich zusammen mit den Massen an Fussgängern durch bis nach Torbole. Von hier sind es nur noch ein paar km bis nach Malcesine.
Oh Mandy
Der letzte, steile Anstieg. Nur noch 300 hm, die bis zum Hotel erklommen werden müssen. Wir haben uns in die begehrte Halbhöhenlage eingebucht. Mit tollem Ausblick auf den Gardasee. Es sind 24 Grad und die Sonne scheint.
Ich sitze auf den Treppen vorm Hotel. Keine zehn Min später kommt Anja an. Ab hier wirds privat ...
2 Min später
Auspacken, umpacken, Rad einpacken. Ich hab schmierige Hände von der Kette und sie muss mir eben zur Hand gehen und das Trikot zumachen: „Wo ist denn dein Bauch? Auf der Strecke verloren?“
Ich muss an unsere Mandy denken, die wir in einer Hundepension untergebracht haben. Ob es ihr wohl gut geht? Bestimmt. Gutes Futter, ab und zu ein paar Leckerli und reichlich Streicheleinheiten, und schon hat man einen „Happy Little Dog“.
Streichel meinen Bauch!
Den Namen haben wir ihr gegeben, weil sie, wenn wir nach Hause kommen, stets mit überschallartiger Geschwindigkeit auf uns zu rennt und sich schon noch im Flug auf den Rücken wirft und die Beine breit macht. (Hust hust, ja, ich weiss, der Name ist jetzt nicht so wertschätzend, aber er passt perfekt zum Verhalten. Ausserdem ... sie weiss es ja nicht zu werten ... und es zaubert einem das Wissen um die Geschichte ein Lächeln ins Gesicht).
Ankommen, sich auf den Rücken werfen und alle Viere von sich strecken.
Und dann den Bauch streicheln lassen.
Leckerlis, bitte.
Ich glaube, GENAU DAS mache ich jetzt auch gleich. Und dann verharre ich zwei Tage in dieser Position, bis die Schmerzen abgeklungen sind.
Im Hintergrund höre ich Anja ein fröhliches Liedchen pfeifen. Ich rufe ihr aus dem anderen Zimmer zu: „Sag mal, pfeifst Du grad das Lied von Monty Python?!?!?!??“
Und Alle so: „Always look on the ...“
Sonnige Grüsse
Jens
PS: Not-So-Fun-Fact: Als ich das Hinterrad ausbaue, merke ich, dass der Freilauf defekt ist. Eine Drehrichtung: Soll so. Beide Drehrichtungen: Das wird teuer. Aber immerhin hab ich ne Punktlandung hingelegt. Bin ja sicher und ohne große Defekte am Hotel angekommen.
_____
Über den Autor:
Jens Mlinarzik, 50 Jahre alt und von Beruf selbstständiger Markenberater und Experte für Positionierung. Ich komme ursprünglich vom BMX (fahre ab und zu auch selber noch auf der Bahn in Vechta – leider viel zu selten), bin begeisterter Radfahrer und hab den halben Keller voller kleiner, feiner Schätze, die jedem Rennradfahrer das Herz aufgehen lassen würden. Meine Herzdame schläft eher ein, wenn ich wieder mal enthusiastisch davon erzähle, welche Schrauben ich gerade bei eBay ersteigert habe.
Mein E-Mountainbike ist ein Haibike XDuro NDuro 10.0 auf dem Jahr 2018.